Grenzerfahrungen mit Halluzinationen – mein erstes 600 km Brevet

Werde ich es nochmal erleben, dass bei mir ein langes Brevet so verläuft, dass ich anschließend berichten kann: “es lief alles total rund, war zwar anstrengend, aber kein Problem zu finishen!”? Zumindest habe ich den Eindruck, dass es in etwa so bei denjenigen Randonneuren abläuft, deren Gespräche ich – meist ehrfürchtig – lausche und die Jahr um Jahr ihre 600er und 1000er fahren, so als wäre dies ein Klacks.

Man kann seine Grenzen tatsächlich Stück für Stück nach oben verschieben, aber so einfach ist es dann doch wieder nicht. Dies wurde mir heute Morgen um kurz vor 4 Uhr bewusst, als ich nach 500 km die Kontrolle in Ostheim erreichte und um nichts mehr in der Welt auch nur einen Zentimeter weiter radeln wollte, zumindest nicht in diesem Moment.

Mit dem 600er Brevet in Gießen hatte ich mir einen dicken Brocken ausgesucht. Fast 6500 Höhenmeter und Abendstart, was für mich – als nicht sehr schneller Fahrer – zwei zu durchfahrende Nächte zur Konsequenz hat. Aber ich wollte es mir nicht zu leicht machen, denn mein Ziel Paris-Brest-Paris in 2019 ist mit über 10.000 Höhenmetern ja auch keine Flachetappe!

Unser Starterfeld am Standort Gießen war Freitagabend extrem klein. Von einem Feld kann man nicht mehr sprechen. Wir waren nur 5 Randonneure, 4 alte Hasen mit PBP und LEL Erfahrung und ich. Es war mein erster 600er. Ich war optimistisch, motiviert, ausgeruht, aber keineswegs übermütig oder gar sicher, das Ding schon in der Tasche zu haben.

Wir starteten pünktlich um 21 Uhr. Bereits nach kurzer Zeit bildeten sich zwei Grüppchen, eine schnelle Dreiergruppe und ein Zweierteam bestehend aus C. und mir. Während der ersten 150 Kilometer bleiben wir zusammen und bringen uns durch die Nacht.

Nicht ausgeschlossen, dass ich ohne seine Gesellschaft bereits zu diesem Zeitpunkt aufgegeben hätte, denn die Sitzbeschwerden setzten schon zwischen 100-150 km ein. Ein schlechtes Omen! Außerdem hatte ich Probleme, mich wach zu halten. Die Motivation ging frühzeitig in den Keller.

Die Sitzprobleme bekam ich in den Griff, indem ich etwa alle 50 km den Schweiß entfernte, sprich meinen Allerwertesten trocken legte. Sitzcreme ist kontraproduktiv! Sie fördert bei mir die Schweißbildung und reizt meine Haut, die dann anfängt zu brennen. Eules Gesäßcreme hatte ich diesmal wieder aufgetragen, deshalb vermutlich die frühen Probleme. Etwa nach der halben Strecke wechselte ich zusätzlich zum “Trockenlegen” noch die Radhose. Von da an lief es für meinen Hintern bestens. Aber das allein reicht nicht für die Langstrecke.

Als Samstagmorgen die Sonne aufging und meine Müdigkeit ihren Tiefpunkt erreichte, trennte ich mich von C. und suchte mir ein Schlafplätzchen, ein EC-Hotel in einer Sparkassen Filiale. Doch mir war es unangenehm, mich in dem kleinen warmen Geldautomaten Raum auf den Boden zu legen und zu schlafen. Ich kam mir vor wie ein Penner! Außerdem beunruhigte es mich, dass mein Fahrrad vor der Tür stand und evtl geklaut werden könnte. Also zog ich nach wenigen Minuten ohne Schlaf weiter.

Hinterm Ortsausgang stand C. am Straßenrand und machte ebenfalls ein Päuschen.
Wir fahren nochmal ein kurzes Stück zusammen. Ein paar Orte weiter starte ich den nächsten Schlafversuch, diesmal an einer Bushaltestelle. Hier habe ich zumindest kein schlechtes Gewissen, aber richtig schlafen kann ich nicht auf dem harten und kalten Steinfußboden auch nicht. Nach etwa 15 Minuten radle ich weiter.

Bei Kilometer 390 treffe ich zu meiner Überraschung C. wieder. Als ich am Straßenrand anhalte und warme Klomotten für die zweite Nacht anziehe, taucht er plötzlich von hinten auf und fragt, ob ich mitfahren möchte. Bis zur Kontrolle nach Reine, bei Kilometer 415, bleiben wir zusammen. Ich war sehr froh, wieder in Gesellschaft zu sein! Das munterte mich definitiv wieder auf.

Während der etwa 325 Kilometer, die ich ganz allein unterwegs war, erlebte ich alle Höhen und Tiefen. Ich hielt unzählige Male an, zum Pinkeln, zum Fotografieren, zum Hintern trocken legen, oder um im Internet nach der nächsten Bahnverbindung nach zu Hause zu recherchieren. Ich raffte mich aber immer wieder auf, weil es keinen nahegelegenen Bahnhof gab, oder weil ich meinen inneren Schweinehund wieder überwand. Mit den vielen Pausen vertrödelte ich jedoch wertvolle Zeit, die ich wohl besser zum Schlafen in einer festen Unterkunft genutzt hätte. Einmal habe ich ca. 30 Minuten ein Nickerchen auf einem Sportplatz gemacht und bin durch mein Schnarchen wieder aufgewacht. Das war der einzige Moment , wo ich wirklich – wenn auch nur kurz – richtig geschlafen habe.

Zu Beginn der zweiten Nacht lief es extrem gut. Ich hatte nach 400 Kilometern immer noch richtig Druck in den Beinen, ich machte Tempo und drückte viele Anstiege im Wiegetritt weg. Ich fühlte mich großartig. Zu diesem Zeitpunkt war der Wille und die Zuversicht zurück, meinen ersten 600er ins Ziel zu bringen. Doch dann kam der äußerst brutale und 85 km lange Streckenabschnitt, u.a. durch den hohen Meißner, der mich bis zur vorletzten Kontrolle nach Ostheim mit einem stetigen und nicht enden wollenden – oft sehr steilem – Auf und Ab so langsam zur Verzweiflung brachte. Hinter Baden Sooden Allendorf kämpfte ich mich einen brutalen Anstieg mit in der Spitze von über 20% hoch. Das steilste Stück musste ich sogar schieben. Und es folgten weitere genauso steile Rampen, die ich zwar irgendwie bezwang, wiederum teilweise schiebend, die mir aber nach und nach meine Motivation raubten und ich mich – mal wieder – fragte, wieso ich mir dies freiwillig antue.

Und zum ersten Mal erlebte ich das, wovon andere Randonneure oft berichten, von “Halluzinationen”. Ich halluzinierte gleich mehrmals und sah – teils bedrohlich wirkende – Menschen und Tiere auf der Straße innerhalb und außerhalb von Ortschaften, die sich aber Gott sei Dank in Luft auflösten, als ich näher kam. Und in einem Ort zündete jemand Böller, die sich zunächst wie ein Feuerwerk anhörten. Doch dann hörte es sich an wie Schüsse und ich war mir nicht mehr sicher, ob da nicht jemand mit eine Pistole rumballert. Schnell suchte ich das Weite.

Mein Verstand war aber noch so klar zu erfassen, dass ich mich gerade an einer Schwelle befand, kurz davor eine Grenze zu überschreiten. Ich brauchte dringend Schlaf! Aber wo um diese Zeit einen Schlafplatz finden. Auf der Höhe am Ende des Anstieges hinter Bad Sooden Allendorf entdecke ich im Wald einen Parkplatz. Dort ließ ich mich nieder. Doch bei jedem Geräusch oder Lichtblitz schreckte ich hoch und hatte die Hosen voll. Vor lauter Angst packte ich schnell wieder zusammen und setzte meine Reise durch die Nacht fort.

Die Kilometer bis Ostheim ziehen sich wie Kaugummi. Mit jedem Kilometer reift der Entschluss, keine weiteren 100 km bis ins Ziel nach Giessen dranzuhängen, sondern bei 500 km erhobenen Hauptes die Reißleine zu ziehen.

Gott sei Dank nimmt meine Frau den Hörer ab, als ich sie um 4 Uhr früh vom Autohof in Ostheim/Malsfeld anrufe und frage, ob sie mich bitte abholt. Eine Stunde später ist meine Liebste vor Ort, mit warmen und trockenen Klamotten, und kutschiert mich und mein Sequoia nach Hause. Ich bin glücklich!

Auch jetzt noch, Stunden später, bin ich nicht frustriert und bereue nicht, es nicht doch versucht zu haben, 600km voll zu machen. Auf die 500 km bin ich stolz. Vielleicht nehme ich nächstes Jahr einen neuen Anlauf. Kommt Zeit kommt Rat.

500,1 km – 4.931 Hm – 23:31 h (Netto) – 21,3 km/h (Netto) – 30:34 h (Brutto)

Strava Link

Hier noch ein paar Impressionen:

15 Kommentare

  1. Absolut Michael, auf die 500 gefahrenen Kilometer kannst Du auch stolz sein. Damit bist Du in Bereiche vorgestoßen, die den meisten verschlossen bleibe. Und bei anderen Sportarten spricht man so häufig von Tagesform, das gilt doch auch erst recht für solche Leistungen. Du hast das einzig richtige gemacht: auf Kopf und Körper gehört. Daher meinen allergrößten Respekt.

  2. Hallo Michael, sicherlich eine gute Entscheidung (denn nach 500 Km gibt man nicht einfach so auf). Wir hatten euch beide noch kurz vor Worbis gesehen, richtig? Wir waren zu viert und sind euch entgegen gekommen. Bei uns lief es sehr gut, nur der Sonntag war dann mit Regen und Wind unangenehm.

    1. Hallo Holger, ja genau, das waren wir beide. Die Entscheidung war sicher richtig, sehe ich auch heute nach einer Nacht Schlaf noch so. Ich möchte nichts auf Biegen und Brechen versuchen und meine Gesundheit aufs Spiel setzen, sondern mich Stück für Stück an lange Strecken herantasten. Ich denke das ist mir bis jetzt gelungen und nächstes Jahr sehen wir weiter.

      1. Hallo Michael, der 600er im Weserbergland ist schon ein Brett! Ich werde nächstes Jahr auch sehen, dass ich die Ostfalen-Serie komplett fahre (für mich ist es ja nah dran). Würde mich freuen, wenn wir uns da wieder sehen!

  3. Respekt erst mal vor der Entscheidung! Keiner muss sich etwas beseisen! Denk doch mal nächstes Jahr an 600km in Berlin oder Ostfalen. Da geht es an die Ostsee! Wunderschöne Strecken! Viele Leute (vor allem in Berlin)! Superanstrengend. Aber Du fährst nicht gleich 6500 HM und bist irgendwie immer in Gesellschaft!

    1. Vielen Dank! In Warberg bin ich dieses Jahr 200/300/400 gefahren und war sogar für den 600er gemeldet, habe mich aber dann doch für Giessen entschieden, insbesondere weil ich keine Lust mehr auf die weite Anfahrt hatte. Die Serie bei Hartmut hat mir sehr gut gefallen, schöne Strecken und top Organisation, insofern kann ich mir gut vorstellen, nächstes Jahr mit an die Ostsee zu fahren, wenngleich ich schon gern Strecken mit ein paar Höhenmetern mag.

  4. Hallo Imi,
    (ich bin einer von den vier „alten Hasen“ und nach 34,5h wieder in Giessen gewesen)
    Ja, das war schon ein sehr harter 600er – und es hat sich mal wieder gezeigt: treten geht immer – ohne ausreichend Schlaf geht gar nichts.
    Ich bin letztes Jahr den 600er im Saarland gefahren – auch ein Nachtstart, auch zwei Nächte, dazu teilw. Hochwasser und Regen und ein sehr anstrengendes Profil (ähnlich wie in Giessen – wenn es dem Ende zugeht wird es immer „welliger“), doch dort konnten wir nach der ersten Nacht mal eine Stunde in einer Kneipe abliegen und wirklich einschlafen, was uns diesmal trotz guter Voraussetzungen in Grosswieden nicht gelungen ist. Wir haben uns dann bis Osterode endlose 8h(!) für 120km gequält. Worbis im Pizzahaus nochmal gegessen, und mein Höhenmeter hat mich dann doch nicht getäuscht – das dicke Ende musste noch kommen. Der erste Anstieg zur ehem. innerdeutschen Grenze vor Bad Soden war der Auftakt zu insg. vier heftigen Anstiegen. Wir sind zu dritt um kurz nach Mitternacht in Ostheim gewesen, und haben uns erst nach einer Stunde wieder aufgerafft/rausgequält. Gemeinsam fahren war dann nicht mehr – jetzt hat jeder“sein Tempo“ finden müssen.
    Da ich mit einer Hitzeschlacht gerechnet habe, hatte ich erstmals auf Arm- und Beinlinge verzichtet. In der ersten Nacht waren die Knie schon stark ausgekühlt (14.5°), doch in der Nacht ging um 4Uhr nix mehr:
    Müdigkeit (fast 48h ohne Schlaf), in der Kälte (10°) schmerzende Knie … meine Rettung war dann ein EC-Vorraum in Kirrtorf mit Teppichboden und 26° Wärme – (fast) eine Stunde Ruhe und Wärme ohne die ich vielleicht ein Taxi hätte anrufen müssen.
    Zum Thema EC-Hotel und Penner vielleicht noch ein kleiner Hinweis:
    Das Ziel ist ordentlich und gesund anzukommen, und ich bin froh solange in Deutschland die EC-Hotels noch geöffnet sind – in Frankreich und vielen anderen Ländern ist das leider schon lange nicht mehr der Fall, und das macht es noch schwieriger o&g anzukommen.
    In diesem Sinne wünsche ich Dir noch viele erfolgreiche Brevet
    Grüße
    saddlebag

    1. Vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar und mein größter Respekt, dass ihr dass so durchgezogen habt. Zum Thema EC-Hotel, vermutlich war ich da noch nicht müde genug und es war schon zu spät am Morgen und hell. Beim nächsten 600er werde ich versuchen länger zu schlafen. Dir auch weiterhin Spaß und Erfolg beim Brevet fahren. Vielleicht sieht man sich mal wieder. VG Michael

  5. Hallo,
    schöner Bericht.
    Ich bin die Runde am Wochenende von Hessisch Oldendorf aus gefahren und war auch ziemlich platt zum Schluss.
    Wir sind ja anders herum gefahren und haben in Osterode/Peterhütte Sontag morgen von 01:00 bis 03:30 zu viert in einer Sparkasse geschlafen. Die Räder mussten draußen stehen da so wenig Platz war. Die restlichen 125km sind wir dann mit Regen und Gegenwind im 7 h heim gerollt.
    Ich mach den ganzen Spaß jetzt schon im 5. Jahr. Einmal habe ich auch einen 600er abgebrochen und habe mich danach darüber sehr geärgert. Was mir dann geholfen hat war das ich die fehlenden 150 km eine Woche später noch gefahren bin. Aber es war eine gut Erfahrung für mich da ich die Schwelle des Abbrechens jetzt höher gehangen habe.

    Wünsch noch viel Spaß und Erfolg
    Christian

    1. Danke! Ich hoffe, dass mir die Erfahrung aus diesem Jahr im nächsten Jahr hilft, meine Grenze wieder ein Stück nach oben zu verschieben, um einen 600er erfolgreich zu finishen. VG Michael

  6. Hallo Michael,
    bin gerad über Deinen Kommentar bei Eva (Takeshi) auf Dich gestoßen.
    Ich bin bisher erst einmal ein 200er Brevet, einmal ein 300er und einmal privat und alleine 430km gefahren und bisher habe ich noch nie unterwegs übernachtet. So ein EC Hotel wäre mir aus exakt den gleichen Gründen wie Dir suspekt. Ich würde mich da auch nicht wohl fühlen können. Ist vielleicht was Anderes, wenn man nicht alleine ist.
    Auf meiner 430km Tour, auf der ich eine Nacht durchgefahren bin, habe ich mich nachts einmal kurz nur in einer Sparkasse aufgewärmt und fühlte mich schon deplatziert. Da werde ich für längere Dinger nach anderen Lösungen suchen müssen. Ich glaube draußen in der Pampa hätte ich ein besseres Gefühl. Ist halt doof, wenns kalt ist.
    Danke auf jeden Fall für Deinen Bericht. Erfahrungen anderer können für einen selbst nur hilfreich sein!
    Viele Grüße aus Duisburg!

    1. Hallo Markus, Danke für deinen Kommentar! Ja, da magst du recht haben, zu zweit oder mit mehreren Leuten würde ich mich in einem EC-Hotel vermutlich weniger unwohl fühlen. Aber fürs nächste Brevet werde ich mir im Vorfeld zum Thema Übernachtung mehr Gedanken machen und diese dann hoffentlich auch umsetzten können. Erfahrungen anderer sind in der Tat oft sehr hilfreich. Ich habe dadurch schon viel gelernt und so manchen nützlichen Tipp erhalten und auch erfolgreich umgesetzt. Viele Grüße, Michael

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